Das Bild des Hirten verbinden viele von uns mit Romantik: Fernab der Zivilisation nur mit den Tieren in der freien Natur zu sein, stress- und sorglos von Weideplatz zu Weideplatz zu ziehen.
Wenn das Wetter schlecht ist, einfach in den Schäferkarren zu schlüpfen und zu warten, bis die Sonne wieder scheint. Dass das Schäfer- bzw. Hirtenleben auch sehr anstrengend ist, verdrängen wir zunächst gerne.
Meine Großmutter erzählte oft von ihrer Zeit als Sennerin auf der Alm in den Chiemgauer Bergen. Sie war nicht sehr hoch gelegen, gut eine Stunde ging man den Almweg vom heimatlichen Bauernhof hinauf auf die Alm. Damals waren auch noch Milchkühe dort oben, heutzutage sind es ja meistens Jungrinder. Alles, was man auf der Alm brauchte, musste mühsam hinaufgetragen, nach dem Buttern und andernorts auch Käsen die fertigen Produkte den umgekehrten Weg wieder nach unten gebracht werden.
So ein Almtag fing frühmorgens schon an. Normalerweise waren die Kühe auch nachts draußen,
zum Melken musste die Sennerin sie erst einmal in den Stall treiben. Und das zweimal am Tag, morgens und abends. Obwohl immer genug zu tun war – Melken, Käsen, Buttern, Haushalt und Stall in Ordnung halten, Essen kochen, die fertige Butter und den Käse hinunter ins Tal bringen -, auch die Einsamkeit musste man aushalten, sich um verletzte oder kranke Tiere kümmern, diejenigen suchen, die sich verstiegen hatten usw. Das war harte Arbeit!
Wenn zum Ende des Almsommers alles gut gegangen war, kein Stück Vieh abgestürzt, vom Blitz erschlagen oder verstorben war, wurden die Tiere zum Dank beim Almabtrieb aufgekränzt, entweder mit einfacheren oder auch kunstvolleren Gestecken aus Zweigen, die mit bunten Papierblumen geschmückt waren, oder auch mit prachtvollen Kronen, manchmal auch mit einem Kreuz.
Die Senner und Sennerinnen waren mit ihren Tieren vertraut, sie kannten sie alle mit ihrem Namen und die Tiere folgten der vertrauten Stimme, wie die Schafe im Evangelium der Stimme des guten Hirten Jesus folgen, weil sie sie kennen. Die Vertrautheit nahm ihnen die Angst und die Scheu, sie wissen, dass sie jemand führt, dem sie unbedingt vertrauen können.
In der wunderschönen, großen, barocken Dorfkirche St. Georg in Ruhpolding findet man eine Gute-Hirten-Kanzel im Rokoko-Stil. Sie heißt so, weil auf dem Schalldeckel der Kanzel Jesus mit Hirtenstab und -hut als der gute Hirte zu sehen ist, behutsam ein Schaf auf seinen Schultern tragend. Engel helfen ihm, die Schafe zu hüten und zusammenzuhalten oder wieder einzufangen.
Bezeichnend ist aber an dieser Kanzel, dass direkt darunter der Taufstein steht. Von rechts und links kann man diese Kanzel besteigen, und auf den bemalten Geländern sieht man auf der einen Seite Jesus, der ein Schaf liebevoll mit der Schere schert, auf der anderen hält er einen Schwamm in der Hand und putzt das Tier, bis es ganz weiß ist. Engel weisen den Schafen dann den Weg zum Himmelstor, das den Tieren offen steht.
Dem Betrachter wird klar: Durch die Taufe gehören wir Christen zu Jesus, er erschließt den Gläubigen, die zu ihm gehören, den Weg zum Himmel. Das Himmelstor steht ihnen offen. Wenn sie dort eintreten, werden sie Leben in Fülle erfahren, um im Bild von Hirte und Lamm zu bleiben: gute Weide mit Nahrung im Überfluss.
Der gute Hirt meint es gut mit seinen Schafen, Und Jesus meint es gut mit uns! Ganz im Gegensatz zu den Dieben und Räubern, von denen er im Evangelium spricht. Die denken nur an sich und wollen etwas haben und an sich reißen, was ihnen nicht gehört, um sich damit zu bereichern, aus welchen Motiven auch immer. Sie handeln nicht aus Liebe zu den ihnen Anvertrauten heraus, sondern aus Habgier und Eigennutz.
Hier leuchtet eine Grundregel für unser Leben als Christ auf: Handle immer aus der Liebe heraus, sie muss der Maßstab deines Tuns sein, bei allem anderen frage dich, was der Beweggrund deines Handelns ist. Ist es nicht die Liebe, dann sei vorsichtig, der Schritt zum Egoismus ist oft nur ein schmaler Grad.
Kehren wir gedanklich noch einmal zu unserer „Guten-Hirten-Kanzel“ in St. Georg zurück.
Durch die Taufe gehören wir zu Jesus, mit der Taufe sind wir auf den Weg christlichen Lebens gestellt, auf dem wir uns durch unser Handeln aus der Liebe heraus bewähren sollen. Manchmal fällt es uns schwer, aus der Liebe heraus zu handeln, aber Jesus selbst hilft uns dabei: Er zeigt uns den Weg und ist selbst unser Wegbegleiter, und wenn es im Leben schwer wird für uns, dann nimmt er uns auf unserem Glaubensweg an der Hand, führt und leitet uns – und wenn’s gar nimmer geht, dann trägt er uns – wie der Gute Hirte auf der Ruhpoldinger Kanzel.
ER ist mit uns auf dem Weg! Der mittlerweile verstorbene Innsbrucker Altbischof Reinhold Stecher hat das in seinem Büchlein „Liebe ohne Widerruf“ eindrucksvoll veranschaulicht. Er beschreibt eine Bergtour, die er niemals allein gewagt hätte:
„Aber ich kam mit einem Bergführer zusammen, der so absolutes Vertrauen erweckte, dass ich mich mit ihm zu dieser Tour entschlossen habe. Er hat mich ans Seil genommen und ist vorausgegangen. Ich habe ihm genau zugeschaut, wie er alles genommen hat, Griff für Griff und Stück für Stück, von Vorsprung zu Vorsprung. Und er machte das alles so großartig sicher und ruhig – wenn dann der Ruf von oben kam: Nachkommen!-, dann gab es gar keinen Grund zur Aufregung. Da hinauf gab es keinen Weg, weder auf der Karte noch in der Natur – aber dieser Mann -, auf ihn habe ich vertraut, ihm habe ich genau zugeschaut, mit ihm war ich durch das Seil verbunden. – Er war mein Weg.
Es hätte mir gar nichts genützt, wenn er mir einfach in der Hütte drunten gesagt hätte, da und da musst du gehen, diesen Tritt, diesen Griff ausnützen, dort nach rechts ausweichen. – Ohne ihn wäre ich nie hinaufgekommen.“
(Stecher, Reinhold, Liebe ohne Widerruf, Innsbruck – Wien 19935, S. 37f.)
Mit Jesus als treuen Wegbegleiter, seinem Beispiel folgend und aus der Liebe zu ihm heraus handelnd, können wir unseren Weg durchs Leben gehen. Oder, wie es Bischof Stecher ausdrückt: „Aber Er muss mich am Seil haben, ich muss mich Ihm anvertrauen, auch wenn es hinauf ins Unbekannte geht.“
Tut sich da nicht der Himmel auf?
Dekan Martin Klein, Teisendorf