Liebe Leser*innen,
es ist zutiefst ernüchternd, dass 2000 Jahre christlicher Botschaft nicht das erreicht haben, was ein fieser kleiner Virus in ein paar Wochen erreicht. Ich meine die achtsame, liebevolle, barmherzige Solidarität, die sich gleichsam mit dem Virus überallhin verbreitet. Generationen von Kirchenvertreter*innen haben die Liebe (die Gott ist) nur sehr bedingt in den Herzen der Christ*innen erwecken und als leitendes Motiv des Handelns in dieser Welt verankern können. Sars-CoV2 gelingt das auf beeindruckend einfache Weise in einem Minimum an Zeit. Daraus dürfen nun allerlei Schlüsse gezogen werden. Etwa der, dass das Leid gegenüber der Freude der erfolgreichere Lehrer ist. Oder der, dass die Angst mächtiger ist als das Vertrauen. Oder auch, dass erst die Katastrophe den Menschen dazu bringt, sein Leben zum Guten hin zu verändern. Müssen uns wirklich erst handfeste Ängste durch grässliche Alpträume jagen, ehe wir den Weg der Liebe Gottes zu betreten bereit sind? Zutiefst ernüchternd für ein/e Christ/in, denn Jesus sagt doch: »Bei euch soll das nicht so sein.« (Markus 10, 43)
Dem halten die Gegner des Christentums gerne entgegen, dass dieser Satz von Jesus am Ende seines Wirkens in Galiläa gesprochen wurde, also noch vor dem
Beginn seines Leidenswegs. Auf dem Weg des Schmerzes und der Schande durch Spott und Verachtung, Böswilligkeit und Lügen hin zum Tod am Kreuz hätte Jesus einen solchen Satz niemals gesagt. Warum? Weil, so die Gegner des Christentums, Jesus erst auf seinem Leidensweg die Augen so richtig aufgegangen seien, wie die allermeisten Menschen wirklich sind. Darum habe er erkannt, dass er gescheitert sei. Nicht für die Sünden der Menschen sei Jesus stellvertretend ans Kreuz gegangen, sondern wegen ihren Sünden habe sein Leben am Kreuz geendet. Nichts anderes, als ein frommer Wunsch sei demnach das »Bei euch soll das nicht so sein.« (Markus 10, 43) Jesus habe diesen Satz gesprochen, ehe er mit der harten Realität der verschlossenen, der Angst ergebenen Herzen der Menschen konfrontiert und davon ernüchtert worden sei.
Diese und ähnliche Argumentationen könnten durchaus überzeugen - wenn sie haltbar wären. Sind sie aber nicht. Sollten ausgerechnet die Gegner des Christentums Jesus persönlich getroffen und ihn über seine innersten Gedanken und Gefühle interviewt haben?! Zudem spricht und handelt Jesus auch auf seinem schweren Weg ans Kreuz und in den Tod stets nach der Liebe Gottes. Darum gilt besonders im Blick auf die von Angst und Tod bedrängten Menschen weiterhin Jesu Satz: »Bei euch soll das nicht so sein.« (Markus 10, 43)
Wie aber soll es dann „bei uns“ sein? Nun, das lehrt uns diesertage Sars-CoV-2 („Corona“): Im Kern ist es die Liebe, die für all unser Handeln leitend sein sollte. Liebe kommt dort zum Ausdruck, wo ich aus Rücksicht auf Abstand gehe. Liebe kommt dort zum Ausdruck, wo sture Gesetzeshörigkeit durch großzügige Barmherzigkeit abgelöst wird. Liebe kommt dort zum Ausdruck, wo nicht Angst sondern Vertrauen ist. Liebe kommt dort zum Ausdruck, wo Hilfsbedürftigkeit Hilfe erfährt, ohne danach zu fragen, was man dafür bekommt oder davon hat. Liebe kommt dort zum Ausdruck, wo alle miteinander an einem Strang ziehen, statt sich gegenseitig fertigzumachen. Liebe kommt auch dort zum Ausdruck, wo ich den Zweifel zum guten Lehrer habe, damit aus leichtsinniger Zuversicht weise Hoffnung werden kann (wie Michael Köhlmeier es formuliert).
Wer solcherart die Liebe (die Gott ist) in sein Leben nimmt, der betritt den Weg des Guten und lässt sich von der Liebe (Gott) für das Heilsame im eigenen Leben und dieser Welt segnen. »Bei euch soll das so sein.« (nach Markus 10, 43) sagt Jesus. Das lege ich uns allen nicht nur diesertage ans Herz.
Bleiben Sie in diesem Sinne gesegnet und gesund!
Ihr Pfarrer Henrich aus Freilassing-Ainring